Naturheilkunde

eine inhaltliche Einführung

Teil 2 von 2

Hier geht’s zu Teil 1.

Im ersten Teil meines zweiteiligen Eröffnungsbeitrag zum Thema Naturheilkunde habe ich Euch meinen persönlichen Weg in die Naturheilkunde geschildert. Meine Tätigkeit in einer stationären Abteilung für Naturheilkunde lies mich täglich erleben, wie der menschliche Körper sich selbst heilen kann. Meinem ehemaligen Chefarzt Prof. Dr. Andreas Michalsen und meinen Oberärztinnen war es dabei stets wichtig, eine seriöse Naturheilkunde zu betreiben. Nicht zuletzt für das Image der Naturheilkunde in der Bevölkerung, aber vorallem auch unter Kolleg:innen ist es wichtig, sich von unseriösen Praktiken zu distanzieren. Schließlich geht es um das Wohl der Patient:innen. Meine ehemalige Abteilung unterstützt eine sogenannte integrative Medizin, in der die seriöse, möglichst evidenzbasierte Naturheilkunde gemeinsam mit einer evidenzbasierten Schulmedizin kombiniert wird. Dies ist nicht nur ressourcenschonend für unser Gesundheitssystem und unseren Planeten, sondern auch enorm wichtig für alle Patient:innen. In der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin-Wannsee wird daher in Kooperation mit der Charité Berlin aktiv naturheilkundliche Forschung betrieben.  

In diesem Teil des Eröffnungsbeitrags zum Thema der Naturheilkunde möchte ich Euch die traditionellen Prinzipien und Säulen der Naturheilkunde erläutern und eine inhaltliche Einführung geben.

die fünf klassischen Säulen der Naturheilkunde

Das Prinzip von Reiz und Reaktion

"Die Dosis macht das Gift"

Das Grundprinzip der Naturheilkunde ist das Zusammenspiel aus Reiz und Reaktion, bzw. Dosis und Wirkung. Dieses Prinzip wird nach Paracelsus (1493/94-1541) „Hormesis“ (griechisch für „Anstoß, Anregung“) genannt. Es  besagt: „allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist“ oder „Die Dosis macht das Gift“. Folglich können verschiedene Reize (Sonnenlicht, pflanzliche Arzneimittel, Reize mit Wärme und Kälte) bis zu einer gewissen Dosis zuträglich, darüber hinaus jedoch schädlich sein. Die unten stehende Grafik macht das deutlich.

Hormesis-Prinzip: Zusammenspiel aus Reiz/Reaktion und Dosis/Wirkung

Ganz anschaulich: Das „Gift“ Sonnenlicht. Gerade jetzt im Frühling merken wir, wie positiv sich das Sonnenlicht auf unser Gemüt auswirken kann. Wir recken und strecken unsere Gesichter in die Sonne, wann immer sie scheint. Auch hilft uns das Sonnenlicht dabei, das wichtige Vitamin D zu bilden. Überschreitet die Dosis des Sonnenlichts allerdings eine kritische Grenze, so folgen vorzeitige Hautalterung oder Sonnenbrand mit Schädigung des Erbguts. Gehäufte Sonnenbrände führen zu einem erhöhten Risiko für Hautkrebs. Hier zeigt sich ganz deutlich das Prinzip von Reiz/Dosis und Reaktion/Wirkung. Das ist Hormesis.

Schneeglöckchen bei Demenz

Mit diesem spannenden Wissen um Hormesis eröffnen sich ganz neue Therapiemethoden. Etwas das zunächst giftig erscheint, kann in einer geringeren Dosis eventuell gesundheitsfördernd wirken. Dieses Prinzip wird in der Suche nach neuen Arzneimitteln genutzt. Bei Schneeglöckchen zum Beispiel. Eigentlich heißt es ja: Finger weg von Schneeglöckchen, die sind giftig! Schneeglöckchen enthalten Galantamin, welches in Laboren genutzt wird. Dieser Stoff erhöht im synaptischen Spalt der Nervenzellen die Konzentration des Botenstoffes Acetylcholin (Galantamin gehört zu den sogenannten Acetylcholinesterasehemmern). Galantamin wird heutzutage synthetisch hergestellt und in der Therapie bei Demenz eingesetzt. Auch hier zeigt sich das Prinzip der Hormesis ganz anschaulich.

In der Naturheilkunde wollen wir durch angewandte Hormesis die Selbstregulation oder Selbstheilung ankurbeln und aktivieren.

Die fünf klassischen Säulen der Naturheilkunde​

Die fünf klassischen Säulen der (europäischen) Naturheilkunde basieren auf den Erkenntnissen des Priesters Sebastian Kneipp. Diese sind wie in der oben stehenden Grafik zu entnehmen: Phytotherapie (Heilpflanzenkunde), Hydrotherapie (Wasseranwendungen), Bewegungstherapie, Ernährungstherapie und Ordnungstherapie. Im weiteren Sinne gehören auch therapeutische Maßnahmen zur Naturheilkunde, die sich nicht direkt in den fünf Säulen wiederfinden, aber dennoch nach dem Prinzip der Hormesis die Selbstheilungskräfte aktivieren. Diese Verfahren könnten als erweiterte Naturheilverfahren bezeichnet werden. Hier spreche ich zum Beispiel von den sogenannten ausleitenden Verfahren (Schröpfen, Aderlass, auch Blutegeltherapie), Neuraltherapie (Therapie durch Spritzen von bestimmten Betäubungsmitteln) oder auch Licht- und Elektrotherapie.[1]  Zu den sogenannten erweiterten Naturheilverfahren folgen noch Artikel. In diesem Beitrag soll es zunächst um die fünf klassischen Säulen gehen.

Spannenderweise lassen sich einige Prinzipien der traditionell indischen Medizin (TIM/Ayurveda-Medizin) und der traditionell chinesischem Medizin (TCM) auch in die fünf klassischen Säulen der Naturheilkunde einordnen. Im Ayurveda beispielsweise wird u.A. mit Heilpflanzen (Phytotherapie), aber eben auch mit Massagen (einzuordnen unter Hydrotherapie) und Ernährung gearbeitet. Yoga kann nach heutigem Verständnis in der Bewegungstherapie, aber auch in der Ordnungstherapie eingeordnet werden. Auch in der TCM hat die Ernährung einen großen Stellenwert und wird je nach Funktionsstörung oder Beschwerden verschrieben. Die TCM-Kräutertherapie würde wohl zur Säule „Phytotherapie“ gehören. Und klassische meditative Bewegungsformen wie Qigong oder TaiChi würden unter „Bewegungstherapie“ oder „Ordnungstherapie“ eingeordnet werden.

Phytotherapie

meint: Anwendung von Heilpflanzen & Pflanzenwirkstoffen

Pflanzen als Heilmittel werden schon seit über 5000 Jahren angewandt und sind somit eine der ältesten Heilmittel. Die in der Phytotherapie verwendeten Präparate nennt man Phytotherapeutika.

Für folgende Erkrankungen hat sich die Anwendung von Phytotherapeutika bewährt und ist zum Teil sogar zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnungsfähig:

– Erkältungen / Infekte der oberen Atemwege

– Stimmungsschwankungen / Depression / Angst

– Magen-Darm-Störungen / chronisch entzündliche Darmerkrankungen

– Harnwegsinfektionen

– Schlafstörungen

Wichtige Heilpflanzen sind beispielsweise Kamille, Johanniskraut, Kümmel, Baldrian, Lavendel, Flohsamen, Ringelblume, Weide, Salbei, Ingwer und Kurkuma. Diese können in Form von Tees, Dragées, Tabletten, Tropfen und Zäpfchen verabreicht werden.

In einem weiteren Beitrag erfahrt Ihr bald mehr über Phytotherapie.

Hydrotherapie

meint: Anwendungen mit Wasser, sowie Arbeit mit Wärme- und Kälte-Reizen, auch Wickel- und Massage-Behandlungen

Einer der größten Pioniere der Hydrotherapie war der Priester Sebastian Kneipp (1821-1897). Bei der Hydrotherapie wird das Reiz-Reaktions-Prinzip besonders klar deutlich: Durch kalte, warme, heiße oder wechselwarme Reize wird eine Reaktion des Körpers hervorgerufen.

Dabei gibt es verschiedene Arten der Anwendung:

– Anwendungen mit fließendem Wasser: Güsse, Duschen

– Anwendungen mit einem Tuch: Waschungen, Wickel, Packungen, Auflagen, Kompressen und Umschläge

– Anwendungen im Wasser:  Wassertreten, Bewegungsbad, Wassergymastik, Bäder (Balneotherapie)

– Sauna und Dampfbäder

Insbesondere das Herz-Kreislauf-System wird durch Hydrotherapie „trainiert“. Inzwischen konnte man auch einen positiven Einfluss auf das Immunsystem nachweisen. Weitere Erkrankungen, die von Hydrotherapie profitieren können sind Venenerkrankungen, Durchblutungsstörungen, Koronare Herzkrankheit, psychische und psychosomatische Beschwerden, Erkrankungen des Bewegungsapparates und weitere.

In einem weiteren Beitrag erfahrt Ihr bald mehr über Hydrotherapie.

Bewegungstherapie

meint: Präventive, sowie therapeutische körperliche Betätigung

Der Deutsche Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e. V. definiert Bewegungstherapie wie folgt: „Bewegungstherapie ist ärztlich indizierte und verordnete Bewegung, die vom Fachtherapeuten geplant und dosiert, gemeinsam mit dem Arzt kontrolliert und mit dem Patienten alleine oder in der Gruppe durchgeführt wird.“[2] 

Die Bewegungstherapie ist eine der wichtigsten prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen zur Bekämpfung unserer Zivilisationserkrankungen. Auch für chronische Schmerzen und viele weitere chronische Erkrankungen ist ein regelmäßiges Ausdauertraining (sogenanntes aerobes Training) eine wirksame Methode zur Beschwerdelinderung. So hilft aerobes Training beispielsweise bei Herz-Kreislauferkrankungen, rheumatischen Beschwerden, Depression und anderen psychischen Erkrankungen, chronischen Lungenerkrankungen und auch chronisch-entzündlichen Magen-Darmerkrankungen.

Zu empfehlen sind vor allem Bewegungstherapien mit geringem Verletzungsrisiko. Dazu gehören zum Beispiel (Nordic) Walking, Schwimmen, Wandern, Radfahren oder Training am Ergometer.

Ernährungstherapie

meint: Pflanzenbasierte Vollwerternährung, bzw. dem Krankheitsbild angepasste Ernährung (Diät) und Heilfasten-Therapie

Die Anfänge der Ernährungstherapie sind zu Zeiten Hippokrates (um 460 v. Chr.) einzuordnen. Folgendes Zitat Hippokrates veranschaulicht die Wichtigkeit der Ernährung: „Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein!“

Pflanzenbasierte Vollwerternährung

Eine für nahezu alle Menschen empfehlenswerte Form der Ernährung ist die Vollwerternährung. Der Begriff der Vollwertkost/Vollwerternährung geht auf Max Bircher-Benner (1867-1939) und auf Claus Leitzmann (1933-jetzt), sowie Karl W. von Koerber (1955-jetzt) zurück. 

Die Vollwerternährung ist eine „überwiegend pflanzliche (lakto-vegetabile) Ernährungsweise, bei der gering verarbeitete Lebensmittel bevorzugt werden.“[3] Sie basiert auf einer hohen Zufuhr an Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten und Vollkorngetreide. Bestensfalls sind die Zutaten für die Vollwerternährung regional und saisonal erworben. Das wirkt sich auch positiv auf die Ökobilanz der Ernährung aus, welche bei der Vollwerternährung nach Leitzmann und Koerber ebenso thematisiert wird.

Heilfasten

Das Fasten hat in fast allen Kulturen und den großen Weltreligionen eine lange Tradition. Heilfasten ist der freiwillige Verzicht auf feste Nahrung und Genussmittel für einen definierten Zeitraum. Heilfasten ist nicht religiös, sondern gesundheitlich motiviert. Die wohl bekannteste Art zu fasten ist das Buchinger-Heilfasten. Hier werden Säfte, klare Gemüsebrühen, Tees und Wasser konsumiert.

Bei folgenden Erkrankungen kann Fasten förderlich sein:

– chronisch-entzündliche Erkrankungen (zum Beispiel Rheuma)

– Herz-Kreizlauf-Erkrankungen (zum Beispiel Bluthochdruck)

– chronische Schmerzen

– Erkrankungen des Stoffwechsels (zum Beispiel Diabetes, Übergewicht)

Bei Vorliegen einer chronischen Erkrankung sollte grundsätzlich der behandelnde Arzt zu Rate gezogen werden.

In einem weiteren Beitrag erfahrt Ihr bald mehr über Ernährungstherapie, insbesondere das Heilfasten.

Ordnungstherapie

meint: Maßnahmen zur Reflexion und Strukturierung der Lebensweise der Menschen zu einer gesundheitsföderlichen Gestaltung des Lebensalltags

Ordnungstherapie

Bereits Hippokrates gab in seiner „diaita“ (altgriechisch für „Lebensweise“) ordnungstherapeutische Hinweise bzw. Empfehlungen. Der Begriff „Ordnungstherapie“ geht unter anderem auf Max Bircher-Benner  und Sebastian Kneipp zurück. Die Ordnungstherapie ist nicht nur eine der fünf Säulen der Naturheilkunde, sondern bildet auch ihr Fundament, da sie die Umsetzung der anderen vier Säulen thematisiert und unterstützt. Dabei soll ein gesundheitsförderlicher Lebensstil, bzw. eine gesundheitsfördernde Lebensordnung entwickelt werden.

Sebastian Kneipp soll gesagt haben: „Ich konnte den meisten kranken Menschen erst helfen, als ich Ordnung in ihre Seelen und damit in ihr Leben brachte“. Es wird mit den Patient:innen also immer ein möglicher Zusammenhang zwischen Krankheit und Lebensstil erörtert. Es geht darum, gemeinsam mit den Patient:innen einen angemessenen Lebensrhythmus und ein gesundes Ess- und Bewegungsverhalten zu entwickeln. Weiterhin werden Fähigkeiten zur Stressreduktion/Entspannung, Verarbeitung von Lebenskrisen, ja sogar Strukturierung von Beruf und Familie thematisiert.

Mind-Body-Medizin

Auch die Mind-Body-Medizin hat das ganzheitliche Ziel einer gesundheitsförderlichen Lebensgestaltung. Sie bezieht sich auf den wechselseitigen Einfluss von Geist/Psyche (Mind) und Körper (Body). Ihre Wurzeln liegen in der Stressforschung bzw. den Stressreduktionsprogrammen von Jon Kabat-Zinn (70er Jahre, USA). Die Ordnungstherapie und die Mind-Body-Medizin sind dabei thematisch fast deckungsgleich. Die Mind-Body-Medizin stärkt darüber hinaus die Fähigkeit zur Selbstfürsorge und Stressbewältigung. Sie orientiert sich stark am Prinzip der Salutogenese (lateinisch: salus für „Gesundheit“/“Wohlbefinden“, und –genese, also etwa „Gesundheitsentstehung“ oder „Gesundheitsentwicklung“).

In einem weiteren Beitrag erfahrt Ihr bald mehr über Ordnungstherapie und Mind-Body-Medizin.

Nun hoffe ich, dass Ihr einen guten Überblick über die Inhalte der Naturheilkunde habt. Meine eigenen Interessensschwerpunkte sind insbesondere die Ordnungstherapie und Ernährungstherapie. Über diese zwei Säulen und die Hydro- und Phytotherapie werde ich in Zukunft noch weitere Themenbeiträge verfassen. Außerdem plane ich Beiträge zu bestimmten Wickelanwendungen, Akupunktur und den sogenannten ausleitenden Verfahren (Aderlass, Blutegeltherapie, Schröpfen). Falls ihr Fragen oder Ideen für weitere Beiträge habt, schreibt mir gern oder nutzt das unten stehende Kommentarfeld. Ich freue mich immer über Post und Anregungen zur Euren Interessen!

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Weiterführende Literatur und Quellennachweise

[1] A.-M. Beer, M. Adler „Leitfaden Naturheilverfahren für die ärztliche Praxis“, ELSEVIR-Verlag, 2012, ISBN: 978-3-437-56103-0

[2] Definition der Bewegungstherapie durch den DVGS: https://dvgs.de/de/sport-bewegungstherapie/definition.html aufgerufen am 04.04.2021, 17:10Uhr.

[3] Gießener Formel: Definition der Vollwerternährung: https://www.ugb.de/vollwert-ernaehrung/giessener-formel/ aufgerufen am 04.04.2021, 17:46Uhr.

04.04.2021

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