Naturheilkunde

eine persönliche Einführung

Teil 1 von 2

„Kann das wirklich alles sein?“ – das war die Frage, die im Laufe meines klinischen Studienabschnitts in mir immer lauter wurde. Werde ich eine durch ungesunden Lebensstil verursachte Erkrankung wie Diabetes Typ II oder Bluthochdruck nur mit Pillen behandeln? Wie kann ich meine Patienten motivieren, gesünder zu leben? Und was heißt überhaupt „gesünder“? Warum lernen wir darüber so gut wie nichts im Studium? Mit der passiven Pillenmedizin konnte ich mich immer weniger identifizieren. Ich begann mit der Recherche nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten chronischer Erkrankungen und stieß auf die Möglichkeiten der naturheilkundlichen, integrativen Medizin. Hier war plötzlich die Rede von „Selbstheilungskräften“, „ganzheitliche Therapie“ oder „Vermeidung des Fortschreitens chronischer Erkrankungen“. Das waren für mich zu dem Zeitpunkt große Versprechen. So richtig konnte ich mir darunter allerdings noch nichts vorstellen. Lernten wir doch zunehmend mit welchem Medikament A man welche Erkrankung B behandelt und welche Nebenwirkungen XYZ dann zu erwarten wären. Wo bleibt da der Mensch? 

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Michael Greger und ich auf dem VegMed-Kongress 2016

Nahrungsmittel als Medizin

Das alles liegt nun über sechs Jahre zurück. Zunächst beschränkte sich mein naturheilkundliches Interesse auf die Ernährungstherapie. Ich entdeckte durch Michael Gregers Buch „How Not To Die“ und seiner non-profit-Seite nutritionfacts.org eine ganz neue Seite der Medizin: Behandlung von Erkrankungen durch Ernährung. Nahrungsmittel als Medizin. Wie abgefahren ist das denn? Da kommt ein:e Patient:in mit Diabetes Typ II und ich als Ärztin verschreibe dann „täglich Vollkornprodukte und 2-3 Portionen Hülsenfrüchte für den second-meal-Effektjeden Samstag und Dienstag Haferschleimtage gegen zunehmende Insulinresistenz“. Das nenne ich mal inspirierend! Diese Erkenntnisse bestärkten mich natürlich in meiner Entscheidung, vegan zu leben. Aber das ist eine andere Geschichte ;). 

Meine Augen leuchteten und mein Herz schlug höher

Dann bin ich auf der VegMed 2016 gelandet. Dem größten europäischen Kongress für pflanzenbasierte Ernährung in der Medizin. Den Eröffnungsvortrag hielt Professor Dr. Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin und Inhaber der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Er referierte über Fasten und pflanzenbasierte Ernährung, sowie den Einfluss auf chronische Erkrankungen und Schmerzen. Meine Augen leuchteten und mein Herz schlug höher. Wer hätte ahnen können, dass ich einige Jahre später ganze zwei Jahre in seiner Abteilung tätig sein würde…?

Von Selbstheilungskräften und geteilter Faszination

Kulturschock pur

Da war ich also: Von 12 Monaten Orthopädie in einem großen Fachklinikum ging es in die Abteilung für Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin-Wannsee. Kulturschock pur. Vorher war ich die besondere „Besser-Esserin“, die mit einem Schmunzeln bestaunt, fast belächelt wurde. Plötzlich waren meine Kolleg:innen selbst vegetarisch oder vegan mit einem breiten naturheilkundlichem Wissen, mit eigener Achtsamkeitspraxis oder einer parallelen Yogalehrer:innenausbildung. Wir teilten die Faszination an der Naturheilkunde

Dem Körper die richtigen Bedingungen zur Heilung geben

Schon in meiner ersten Woche konnte ich im wahrsten Sinne sehen, was sich hinter diesen sogenannten Selbstheilungskräften verbirgt. Zur stationären Behandlung wurde eine Patientin mit einer chronisch-entzündlichen Erkrankung der Gelenke (Rheumatoide Arthritis) aufgenommen. Die Patientin konnte ihre Hände kaum bewegen. Die kleinen Fingergelenke waren geschwollen und überwärmt. Ein Faustschluss war nicht möglich. Außerdem litt sie unter chronischen Schmerzen. Wir verordneten unter anderem eine Heilfastentherapie, sowie serielle Ganzkörper-Kältekammer-Therapie (tägliche Anwendung in einer Kältekammer für 2-3 Minuten bei -110°C!). Dabei ist auch wichtig anzumerken: Wir veränderten nichts an den Medikamenten, die die Patientin von ihrem ambulant betreuenden Rheumatologen verschrieben bekommen hatte. Nach zwei, drei Tagen kam genau diese Patientin zur Visite. Sie lief fröhlich und fast schmerzfrei ins Arztzimmer und zeigte uns überglücklich, wie sie zwei geschlossene Fäuste bilden konnte. Das ist Selbstheilungskraft. „Dem Körper die richtigen Bedingungen zur Heilung geben“ – diesen Satz hatte ich zu dem Zeitpunkt schon oft gehört, aber erst jetzt richtig verstanden. Dabei ist auch wichtig anzumerken, dass wir Rheuma nur mit Naturheilkunde natürlich nicht heilen können, das macht aber auch die schulmedizinische Medikation nicht. Viel mehr ist hier hervorzuheben, welchen (nachhaltigen) Effekt solche Ergebnisse auf die Patient:innen haben. Für die meisten Patient:innen fühlt es sich einfach super ermächtigend und ermutigend an, den positiven Einfluss der naturheilkundlichen Therapien erleben. Denn zum ersten Mal bekommen viele der Patient:innen das Gefühl von richtiger Selbstwirksamkeit

Im Laufe der zweijährigen Tätigkeit in der Abteilung für Naturheilkunde habe ich viele solcher Patient:innenverläufe erleben und begleiten dürfen. Diese Erlebnisse haben mir im wahrsten Sinne Mut gemacht, dass Medizin auch anders geht.

Im Immanuel-Krankenhaus war ich vornehmlich in der stationären Betreuung der Patient:innen tätig. Für vier Monate arbeitete ich zudem in der Tagesklinik für Mind-Body-Medizin (was sich unter „Mind-Body-Medizin“ verbirgt, erfahrt ihr in Teil 2). Alles in allem habe ich ein breites Spektrum vieler naturheilkundlicher Verfahren kennenlernen dürfen und möchte aus diesem Erfahrungsschatz erzählen und Euch informieren.

Stellenwert der Naturheilkunde in Deutschland

Hokus-Pokus-Medizin

Während naturheilkundliche Verfahren und deren Erforschung in den USA mit großen staatlichen Mitteln gefördert werden, und die traditionell indische Medizin (TIM/Ayurveda-Medizin), sowie die traditionell chinesische Medizin (TCM) in Indien bzw. China einen großen Stellenwert haben, wurde die klassische Naturheilkunde in Deutschland, insbesondere von der Ärzteschaft, zum großen Teil lange nur müde belächelt. Oft habe ich schon Begriffe wie „Hokus-Pokus-Medizin„, „Außenseitermedizin“ oder „Scharlatanerie“ gehört. Tatsächlich sind solche Phrasen Zeugnis über das Unwissen und die Ignoranz derer, die solche Worte nutzen. Zum Glück aber hat sich der Wind gedreht. Dies erkennt man unter anderem daran, dass sich die Naturheilkunde inzwischen an der international renommierten Universitätsklinik der Charité findet und gefördert wird.

Hohes Interesse an der Naturheilkunde in der Bevölkerung

Und auch in der Bevölkerung ist das Interesse groß: In einer repräsentativen Bevölkerungsstudie[1] wurde die Inanspruchnahme sowie die Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren und anderer alternativer Heilmethoden in Deutschland erfasst. Diese ergab, dass rund 70% der befragten Frauen und 54% der befragten Männer in den letzten 12 Monaten mindestens ein klassisches Naturheilverfahren beziehungsweise alternative Heilmethode in Anspruch nahmen. Enthalten waren hier vorallem Elemente aus der Bewegungstherapie, der Pflanzenheilkunde, aber auch aus der Hydrotherapie (Anwendungen mit Wasser/Wärme/Kälte) und medizinische Massagen. 9% der Befragten nutzten in den letzten 12 Monaten auch Akupunktur. Am meisten kamen die oben genannten Methoden gegen Rückenschmerzen (57%), Erkältungen (20%), Kopfschmerzen (19%) und Magen-Darm-Beschwerden (12%) zum Einsatz. Ganze 58% der Befragten wünschten sich, dass ihre behandelnden Ärzt:innen mehr solcher Therapien verschreiben würden. 48% wünschten sich mehr Informationen und Aufklärung über die Vorteile naturheilkundlicher Anwendungen. Diese und weitere Umfragen zeigen die hohe Akzeptanz und den Wunsch nach naturheilkundlichen Behandlungen, bei gleichzeitig hohem Informationsbedarf. 

Die fünf klassischen Säulen der Naturheilkunde

Nun aber zum Inhaltlichen. Fünf klassische Naturheilverfahren bilden die Säulen der Naturheilkunde. Diese Naturheilverfahren verfügen über eine lange Tradition und setzen echte Naturfaktoren (Wärme, Kälte, Wasser, Heilpflanzen, Bewegung und Nahrungsmittel) ein[2]. Es handelt sich dabei um Phytotherapie (Heilpflanzenkunde), Hydrotherapie (Therapie mit Wasseranwendungen), Bewegungstherapie, und Ernährungstherapie, sowie um die Ordnungstherapie (gesundheitsfördernde Lebensordnung). All diese Therapien werde ich im zweiten Teil dieses Beitrags näher erläutern. Ein weiteres Prinzip der Naturheilkunde ist die Stärkung bzw. Aktivierung der Selbstheilungskräfte durch  Reiz und Reaktion (Hormesis-Prinzip, siehe Teil 2)[3]

Hilfe zur Selbsthilfe

Besonders faszinierend und hilfreich finde ich, dass sich jede dieser fünf Säulen dadurch auszeichnet, dass den Patient:innen Hilfe zur Selbsthilfe angeboten wird. Wir Ärzt:innen geben den Patient:innen quasi den Schlüssel für Ihre Gesundheit zurück, indem wir sie zu den Naturheilverfahren anleiten. Durch die Anwendung der Verfahren werden die Patient:innen zu ihren eigenen Therapeut:innen. Jede der fünf Säulen kann sowohl präventiv, also vorbeugend, als auch bei Funktionsstörungen oder chronischen Erkrankungen zum Einsatz kommen.

Im zweiten Teil dieses Blogbeitrags gehe ich näher auf die einzelnen Säulen ein und erläutere diese.

Hier geht’s weiter zu Teil 2 von 2.

Weiterführende Literatur und Quellennachweise

[1] Härtel U., Volger E. „Inanspruchnahme und Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren und alternativer Heilmethoden in Deutschland – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie“, Forsch Komplementärmed Klass Naturheilkd 2004;11:327-334  (DOI:10.1159/000082814)

[2] A.-M. Beer, M. Adler „Leitfaden Naturheilverfahren für die ärztliche Praxis“, ELSEVIR-Verlag, 2012, ISBN: 978-3-437-56103-0

[3] A. Michalsen „Heilen mit der Kraft der Natur“, Insel-Verlag, 2018, ISBN 978-3-458-36370-5

01.04.2021

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